Marina Mehlis: Suche nach meinem Urgroßvater dauerte mehr als 70 Jahre

Ein Name gab den unzähligen sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Stalag326 in Schloß Holte-Stukenbrock während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten festgehalten und in vielen Fällen zu Tode gequält wurden, ein Gesicht: Stepan Stepanovich Lazarew. An der Gedenkveranstaltung anlässlich der Befreiung des Lagers vor 75 Jahren durch amerikanische Soldaten nahm dessen Urenkelin Marina Mehlis zusammen mit ihrem Mann Christian teil. Wie Marina, die heute in Berlin lebt, berichtete, wusste die Familie lange Zeit nichts über das Schicksal des Urgroßvaters, der als verschollen galt. Erst mit Hilfe einer Datenbankrecherche bekam die Familie vor einigen Jahren die Gewissheit, dass auch Stepan Stepanovich Lazarew in Schloß Holte-Stukenbrock den Tod fand.

Anlässlich der Gedenkveranstaltung hatte ich die Gelegenheit, mit ihr und ihrem Mann über all das zu sprechen: „Mein Name ist Marina Mehlis, und ich freue mich, heute bei Ihnen zu sein, um Ihnen die Geschichte meiner Familie zu erzählen und meinen Urgroßvater Stepan Stepanovich Lazarew zu ehren. Das ist eine Geschichte, die für mich persönlich 13 Jahre lang ist, aber für meine Familie dauert sie schon mehr als 70 Jahre. Das ist auch eine Geschichte über zwei Reisen – die Reise meines Urgroßvaters in den Krieg, der ihn hierher, in dieses Kriegsgefangenenlager und in den Tod geführt hat. Und das ist die Geschichte über meine persönliche Reise – eine Reise zu meinem Urgroßvater.

Mein Urgroßvater Stepan Stepanovich war bei seinem Kriegseinsatz bereits über 40 Jahre alt. Er hatte eine Frau und vier Kinder, der jüngste Sohn war mein Großvater, geboren 1942. Wegen des Krieges hat er seinen Vater nie gesehen. Stepan Stepanovich war gezwungen, seine Familie zu verlassen, um vor allem seine Frau und Kinder zu beschützen. Das haben Millionen russischer Männer getan. Bis März 1943 hat mein Urgroßvater für sein Land, seine Heimat, seine Eltern und die eigene Familie gekämpft.

Am 15. März 1943 wurde er gefangen genommen und in dieses Kriegsgefangenenlager gebracht. Ab diesem Moment war er für seine Familie im Krieg verloren. Stepan Stepanovich hat es geschafft, mehr als ein Jahr im Stalag 326 zu überleben. Er hat in dieser Region im Bergbau arbeiten müssen. Woran er dann erkrankt und im Lager verstorben ist, das lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen.

Ich frage mich oft: Worüber hat er während dieser Zeit nachgedacht? Tag für Tag hat er sich bestimmt an seine Frau erinnert, die allein mit 4 Kindern in der Heimat zurückgeblieben ist und auf ihren Mann gewartet hat. Was hat mein Urgroßvater gefühlt? Hatte er noch Hoffnung? Das werde ich, seine Urenkelin, nie wissen und erfahren.

Jede russische Familie hat ihre Helden, wir haben so wenig über unseren verlorenen Helden gewusst. Im Jahr 2007 war ich in der 10. Schulklasse, und im Geschichtsunterricht haben wir mit unserer Lehrerin die Ereignisse dieses furchtbaren Krieges besprochen. Sie hat uns die Website Memorial genannt, über die wir Informationen über unsere Verwandten finden konnten. So konnte ich endlich den Spuren meines Urgroßvaters folgen – auf der Website gab es eine ausführliche Personalkarte von ihm. Sogar der Name seiner Frau stand dort, und wir hatten keine Zweifel mehr daran, dass wir endlich unseren Kriegshelden gefunden haben.

Vor allem habe ich diese Suche für meinen Großvati unternommen. Das hat mir so viel Glück bereitet – mein Großvati konnte nun endlich etwas über das Schicksal seines Vaters, meines Urgroßvaters, erfahren. Ich war sehr gerührt in diesem Moment, und ich habe ihm damals versprochen, dass wir zusammen nach Deutschland fahren und das Grab seines Vaters besuchen werden. Zu diesem Zeitpunkt war ich 16 Jahre alt. Ich wusste, dass ich diese Reise eines Tages antreten werde, und zur Not wäre ich alleine gefahren und hätte ihm Bilder von diesem Ort mitgebracht. Viele Jahre blieb dies nur mein Wunsch. Aber nie habe ich mein Versprechen vergessen.

Vor zwei Jahren hat meine eigene Geschichte mich nach Deutschland geführt. Aber es hat leider noch etwas gedauert, bis ich mich auf den Weg zur letzten Ruhestätte meines Urgroßvaters gemacht habe. In diesem Frühling hoffte ich noch, bald meinen Wunsch zu erfüllen und zusammen mit meinem Großvati nach Schloß Holte-Stukenbrock zu reisen. Leider ist es anders gekommen als geplant. Im April kam die traurige Nachricht aus Moskau, dass mein geliebter Großvater Jurii Stepanovich Lazarew verstorben ist. Es hat mir besonders weh getan, dass ich es nicht mehr zu seinen Lebzeiten geschafft habe, die Gedenkstätte zum Stalag 326 zu besuchen.

Nachdem der Schmerz über den Verlust meines Großvaters nachließ, verstärkte sich mein Wunsch, das Versprechen nichtsdestotrotz einzulösen. Ende Juni habe ich das Grab meines Urgroßvaters auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof hier in Schloß Holte-Stukenbrock endlich besuchen können. Ich bin mir sicher, mein Großvati war in diesem Moment dabei. Und jetzt guckt er mir auch zu und ist sehr stolz auf seine Enkelin.

Mein Besuch der Gedenkstätte hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Die Mitarbeiter haben mir die Personalkarte meines Urgroßvaters erklärt und mir erläutert, was für mich und meine Familie unklar war. Sie haben mir den Ehrenfriedhof und das Grab von Stepan Stepanovich gezeigt. Der Leiter der Gedenkstätte, Herr Nickel, hat mir von den Lebensbedingungen im Lager erzählt. Vor meinen Augen habe ich dabei immer wieder meinen Urgroßvater in diesem Schrecken gesehen. Das hat mich wütend und sehr traurig gemacht. Ich bin sehr dankbar, dass nach mehr als 70 Jahren die Erinnerung am Leben gehalten wird.

Meine Geschichte ist eine der vielen Millionen Familiengeschichten aus dem Krieg, und als Russin bin ich dankbar, dass man in Deutschland dafür sorgt, dass die Spuren dieses Krieges nicht verloren gehen. Ich repräsentiere die Generation der Urenkel, denen es auch sehr wichtig ist, an die Geschichte der eigenen Familie zu erinnern und auch unseren Kindern und Enkeln beizubringen: man soll nie vergessen, damit es nie wieder passiert. Wir sind zuständig für den Friedenserhalt in der Welt, für den Frieden zwischen Ländern und Völkern. Wir schulden es unseren Verwandten, die in diesem Krieg ihre Leben und ihre Lieben verloren haben, Mütter ihre Söhne, Frauen ihre Männer.

Vielen Dank, dass ich heute in dieser Gedenkfeier an die Geschichte meiner Familie und an meinen Urgroßvater erinnern durfte.