André Kuper erinnert sich: Der 09. November 1989 und die Zeit davor

Was haben Sie gestern vor 25 Jahren gemacht?
Wissen Sie das noch, können Sie sich noch daran erinnern?

Mit diesem kurzen Bericht möchte ich Sie teilhaben lassen an unseren eigenen Erfahrungen:
Wir waren daheim an diesem Abend. Meine Frau und ich haben am Fernseher das unfassbare, das wunderbare Geschehen in Berlin und an der Mauer verfolgt.
Aufgrund der Tatsache, dass meine Frau schwanger war und wir unseren ersten Sohn mit gerade 20 Monaten zu versorgen hatten, haben wir von einer spontanen Fahrt nach Berlin abgesehen.
Mit Tränen in den Augen erlebten wir also die unglaubliche Entwicklung:
Haben wir doch einige Jahre lang, aufgrund  eines, anfänglich nur als Brieffreundschaft angelegten Kontaktes meiner Frau Monika, die Möglichkeit gehabt, das Leben in der DDR live und in ihrem, überwiegend leidigen, Facettenreichtum mitzuerleben.

Dankbar, unendlich dankbar waren wir nach jedem Besuch vor Ort über all das, was den Menschen hier, was uns allen im Westen so unendlich selbstverständlich war.
Und das war, weiß Gott, weit mehr als nur die Bananen, die es dort nicht zu kaufen gab.

Das ganze Leben war reglementiert. Es fing damit an, dass niemand freie Platzwahl hatte in einem Restaurant, niemand wusste am Morgen, was es zu Mittag daheim zum Essen gab, da es ja nicht bekannt war, ob es an dem Tag überhaupt Bratwurst, Mett, oder vielleicht Kassler zu kaufen gab. Oder ob der Fleischer überhaupt noch Ware zu veräußern hatte. Jeder Kunde der sich in die, meist lange, Schlange einreihte teilte das laut und unmissverständlich allen Wartenden mit: ‚Ich bin der Letzte‘, somit gab es keine Probleme damit, wer an der Reihe war.

Die Situation, dass es eigentlich nie das gab, was man brauchte setzte sich fort:
Ein wahrer Tauschrausch war zu beobachten. Jeder kaufte das, was gerade angeboten wurde. Fliesen, auch wenn man sie nicht brauchte. Denn die ließen sich gut eintauschen, vielleicht gegen Tapeten oder Wandfarbe. Die Menschen wurden, zwangsläufig, sehr kreativ.

Bei unserem ersten Besuch, 1985, auf Einladung unserer Freunde, fanden wir die Adresse der uns angegebenen Datsche in Caputh, nahe Babelsberg, nicht auf Anhieb. Wir stiegen aus und fragten, ahnungslos wie wir waren, die Nachbarn, die wir im Garten sahen. Aber –  wir erhielten keine Auskunft. Stattdessen beobachtete man uns argwöhnisch und ging ins Haus. Wenig später wussten wir, dass man hier eben die Nachbarn nicht fragt, dass man sich verdächtig mache dadurch.

Unser erster Besuch in einem Babelsberger Lokal endete damit, dass wir nicht bedient wurden, da wir nicht wussten, dass man sich nicht selber für einen Platz entscheiden darf. Das Restaurant übrigens war menschenleer als wir eintrafen und jeder Stuhl war frei.

Ein anderes Mal, wir trafen uns in Ostberlin mit unseren Freunden, die übrigens bereits seit geraumer Zeit observiert wurden, da sie sich sehr in Ihrer Gemeinde in der katholischen Kirche engagierten, als es gar zu einem spektakulären Zwischenfall kam.

Es war im Jahr 1986, wir gingen lachend und mit Freude über unser Wiedersehen, zu viert in der Eiseskälte eines Januartages, in Richtung Brandenburger Tor, an der sowjetischen Botschaft vorbei. Plötzlich wies uns ein Soldat der Vopo an, wir sollten anhalten: Mit Maschinengewehren im Anschlag stellten sich flugs zwei weitere Soldaten um uns herum.
Ohne erkennbaren Grund nahm man uns die Personalausweise ab und wir wurden für einige Stunden, bei Minusgraden, in einem Glaskasten festgehalten.
Niemand sprach mit uns und es war sehr beklemmend.
Die Erleichterung, als wir unsere Pässe, ebenfalls ohne Kommentar, zurückbekamen und wieder hinaus auf den Gehweg konnten, spüren meine Frau und ich noch heute.

Wir haben die ganze Bandbreite erlebt: Unsere Telefongespräche nach Babelsberg landeten beim dortigen Volkspolizisten und einmal mussten wir bei der Einreise unsere komplette Innenverkleidung der Autotüren ausbauen.

Wir trafen uns ‚heimlich‘ auf Parkplätzen nahe Babelsberg, bei unseren Fahrten nach Berlin. Nur um uns einmal zu sehen, einmal zu umarmen und ein West-Geschenk zu übergeben.
Und immer begleitet von der Angst, gesehen, beobachtet und bestraft zu werden dafür.

Unsere Freunde, ihre Familien und die Freunde ihrerseits, fanden über all die Jahre Halt in ihrem Glauben und im starken Zusammenschluss der sehr aktiven Kirchengemeinde. Hier haben wir Pfarrgemeinde als etwas unglaublich positives und mutmachendes erlebt. Auch diese Erfahrungen möchten wir nicht mehr missen.

Unsere Freundschaft hat sich über alle Jahre, über die wechselvollen Zeiten, trotz aller Herausforderungen, und trotz aller Unterschiede gehalten. Und gerade deswegen ist es uns wichtig, noch immer darüber zu sprechen und der jungen Generation zu berichten, wie wertvoll sich die Freiheit darstellt, die uns gegeben ist.
Unsere Demokratie ist ein so hohes Gut, damit müssen wir alle behutsam umgehen.

Lassen Sie uns dieses gemeinsam nicht vergessen, lassen Sie uns immer bemüht sein, gemeinsam für eine Sicherung dieser Freiheit und unseres Friedens einzutreten, und das nicht nur in diesen denkwürdigen Tagen.

Herzlichst

Ihr/Euer André Kuper