„Demokratie ist die beste Staatsform“ – Meine Rede zur Feierstunde zum 75. Geburtstag des Landtags

Mit einem gemeinsamen Festakt haben NRW-Landtag und Landesregierung an die erste Sitzung des Landesparlaments vor 75 Jahren am 2. Oktober 1946 erinnert. In meiner Festrede vor den Abgeordnetenkollegen aller im Landtag vertretenen Fraktionen sowie zahlreichen Ehrengästen, darunter dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, dem britischen Generalkonsul Rafe Courage sowie Mitgliedern des Konsularischen Corps, war es mir wichtig herauszustellen, dass die Demokratie in NRW in den 75 Jahren gewachsen und fest im Land verwurzelt ist.

Im Folgenden finden Sie die Lesefassung meiner Rede zum Nachlesen:

 

Sehr geehrter Herr Präsident Dr. Harbarth!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Armin Laschet,

Sehr geehrte Frau Präsidentin, Professorin Dauner-Lieb!

Verehrte Mitglieder des Landtags, des Präsidiums sowie der Landesregierung!
Liebe Mitglieder des Konsularischen Corps mit dem britischen Generalkonsul Rafe Courage,

Verehrte Gäste.

Es ist ein erfreulicher, es ist ein schöner Anlass, der uns heute Morgen zusammenführt. Seien Sie alle auf das Herzlichste willkommen!

Wir haben uns versammelt in einer Zeit, die von Gegensätzen, großen Herausforderungen, zahlreichen Momenten der Trauer, der Fassungslosigkeit, aber auch der Freude geprägt ist.

Heute blicken wir zurück auf die 75-jährige Geschichte: Dankbar erinnern wir uns an die erste Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen im Oktober 1946.

200 Abgeordnete versammelten sich am 2. Oktober 1946 im Düsseldorfer Opernhaus, ernannt von der britischen Militärregierung, um Westfalen und das nördliche Rheinland parlamentarisch zu vertreten.

Jene Wochen im Sommer und Herbst des ersten Nachkriegsjahres gelten als „Geburtsstunde“ unseres Landes und unserer heutigen, parlamentarischen Demokratie. Nordrhein-Westfalen, ebenso wie die anderen Länder und die spätere Bundesrepublik, entstanden wahrlich auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs.

Doch nicht allein die Städte, die Industrie und die Verkehrswege in unserem Land lagen nach Kriegsende in Schutt und Asche. Zerstört war nach den Jahren der nationalsozialistischen Tyrannei und Diktatur auch das Vertrauen der Welt in die deutsche Politik. Und mit dem Wissen um den staatlich organisierten, systematischen Massenmord an Millionen von Menschen war der Glaube an die Menschlichkeit als Richtschnur staatlichen Handelns verloren.

Wir dürfen daher niemals vergessen:

Der Gründung Nordrhein-Westfalens und dem parlamentarischen Neubeginn ging das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte voraus.

Umso unglaublicher und wertvoller ist das Angebot zur Demokratie, das die britische Besatzung unseren Vorgängerinnen und Vorgängern im Parlament 1946 gemacht hat.

Für dieses Angebot sind wir in Nordrhein-Westfalen dem britischen Volk und dem Vereinigten Königreich für immer dankbar, lieber Generalkonsul Rafe Courage.

Der Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte, Sir Douglas, rief die Abgeordneten damals in der ersten Sitzung auf, mitzuwirken am „Bau eines friedfertigen, wirklich demokratischen Deutschlands.“ Sein Appell bedeutete für die versammelten Abgeordneten Verpflichtung und Verantwortung zugleich.

Unter den 200 Abgeordneten des ernannten Landtags befanden sich Frauen und Männer, die selbst im Nationalsozialismus politisch verfolgt worden waren. Es waren Menschen, die von den Nazis gedemütigt und geschmäht, in Haftanstalten und Konzentrationslagern eingesperrt und gefoltert wurden.

Die Verfolgungsbiografien dieser Abgeordneten arbeiten Historiker wie  Prof. Goch hier im Landtag seit 2020 wissenschaftlich auf. Fünf beispielhafte Lebensgeschichten sind Teil einer Ausstellung „Säulen der Demokratie“, die nun in der Bürgerhalle unseres Parlaments, rund um den gläsernen Besucheraufzug, gezeigt wird. Diese Politikerinnen und Politiker sind – wie viele weitere auch – Säulen der Demokratie. Sie bleiben unvergessen.

Was also zeichnet unser Parlament 75 Jahre nach seiner Gründung aus?

Sind es die über 2.000 Plenarsitzungen?

Sind es die über 95.000 parlamentarischen Drucksachen?

Oder die fast 2.000 verabschiedeten Gesetze?

Ich meine:

Wenn wir heute auf 75 Jahre Landtagsgeschichte blicken, dann würdigen wir damit das Miteinander in Nordrhein-Westfalen.

Wir würdigen alle Menschen, die sich für unsere parlamentarische Demokratie stark gemacht haben: innerhalb wie außerhalb dieses Parlaments, in den beschwerlichen Anfängen ebenso wie in den darauffolgenden, oft stürmischen Jahrzehnten.

Wir würdigen alle Menschen, die demokratisches Engagement im Alltag leben und fördern, die sich für die politische Bildung einsetzen und das Wissen um die Bedeutung unserer Demokratie von Generation zu Generation weitertragen.

Dazu zählen auch die 1.796 Abgeordneten, die bis heute in dieses Parlament gewählt wurden. Sie alle stehen mit ihren persönlichen Lebenswegen, ihren politischen Motivationen für die Demokratiegeschichte in unserem Land.

Unser Parlament lebt vom Austausch. Sein Fundament ist das Vertrauen in unsere Arbeit.

Daher ist das 75-jährige Jubiläum auch ein Anlass, all jenen zu danken, die für diesen Austausch stehen.

    • Vereine und Verbände,
    • Schulen, Hochschulen und Bildungseinrichtungen,
    • die kommunale Familie,
    • die Gewerkschaften, Kammern und Interessensvertretungen,
    • Stiftungen, Institute und Arbeitskreise,
    • die Kirchen, die Glaubens- und Religionsgemeinschaften,
    • das konsularische Korps,
    • die Medien in unserem Land,
    • und viele, weitere mehr.

Danke für viele Jahrzehnte der Zusammenarbeit und des vertrauensvollen Austausches! Wir freuen uns über Ihre heutige Teilnahme!

Das Aushandeln von Konsens durch Politik mit Worten und Widerworten, aber niemals mit Waffen, ist und bleibt Wesensmerkmal unserer parlamentarischen Demokratie.

Und deshalb ist der heutige Tag ein Grund zur Freude.

Er zeigt:

Unsere Demokratie ist in 75 Jahren gewachsen und im Land fest verwurzelt. Sie bedingt und sie benötigt gesellschaftliche Vielfalt gleichermaßen. Sie ist grundsätzlich stark und standfest, gerade auch in Krisenzeiten, wie wir sie aktuell gleich vielfach erleben müssen.

Und sie wird dies weiterhin sein, so lange sich viele Menschen für sie und durch sie engagieren.

Zugleich allerdings geben 75 Jahre Parlamentsgeschichte Anlass, demütig zu sein und wachsam zu bleiben.

Verehrter Herr Präsident Harbarth!

Vielen Dank, dass Sie heute an unserer Feierstunde teilnehmen und gleich zu uns sprechen. Sie haben jüngst zum 70. Jahrestag des Bundesverfassungsgerichts gewarnt:

„Die Errungenschaften des Grundgesetzes sind zerbrechlich.“

Ja, unser Frieden, unsere Freiheit und unsere Vielfalt sind fragil und nicht selbstverständlich. Sie werden bedroht durch gesätes Misstrauen in staatliche Institutionen und bewusst gestreute Falschinformationen, durch Feinde der Demokratie, innerhalb wie außerhalb unseres Landes, durch massiv zunehmenden Antisemitismus.

Umso mehr müssen unsere demokratischen Errungenschaften jeden Tag neu gestärkt und verteidigt werden, nicht zuletzt an diesem Redepult, in diesem Hause, im Herzen der nordrhein-westfälischen Demokratie.

In diesem Parlament wurden in 75 Jahren wichtige Weichen für Nordrhein-Westfalen gestellt. Denken wir an die großen Herausforderungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach 1946. Denken wir an den späteren Strukturwandel, der uns mit seinen Folgen auch weiterhin umtreibt. Denken wir an die jahrzehntelangen, politischen Auseinandersetzungen in der Schulpolitik und an das Ringen um die besten Konzepte, durch Bildung Chancen zu schaffen. Denken wir an die erledigten und noch vor uns liegenden Jahrhundertaufgaben in der Klima- und Energiepolitik.

Eine Aufzählung all dieser Themenfelder, die unser Parlament geprägt hat, und durch die es selbst geprägt wurde, könnte an dieser Stelle niemals vollständig sein.

Demokratie ist komplex. Doch ist sie die beste Staatsform, die wir uns wünschen können. Sie ist und bleibt Garant für ein gutes Zusammenleben, für unser Miteinander in Frieden, Freiheit und Vielfalt.

In diesem Hause schreiben wir Abgeordnete die Geschichte der parlamentarischen Demokratie fort. Wir tun dies in Verantwortung vor den Menschen, die uns bei Wahlen ihre Stimmen anvertrauen und in der Gewissheit, nachfolgenden Generationen das Geschenk der parlamentarischen Demokratie weiterzureichen.

Und so gratuliere ich herzlich unserem Parlament zum 75-jährigen Geburtstag und danke Ihnen, den Abgeordneten – ehemaligen wie aktuellen – für Ihr persönliches Engagement im Sinne einer lebendigen und damit zukunftsfesten Demokratie in Frieden und Freiheit.

Und ich gratuliere allen Bürgerinnen und Bürgern im Land zum 75. Jubiläum ihres Parlaments.

Nochmals herzlich willkommen zu dieser Feierstunde!

 

Bilder: Schälte/Landtag NRW